Ein Essay von Gottfried Hermann Spieth.
Wir schaffen das! Wer immer auf der Flucht ist und anklopft, wird aufgenommen. Wer immer auf der weiten Welt in Not ist, soll wissen: Er oder sie ist willkommen in unserer solidarischen Gemeinschaft. Freie Niederlassung für alle! Existenzsicherung für jeden! Das ist die Kultur der Barmherzigkeit, für die wir einstehen. Mitmenschlichkeit ist das höchste Gut auf Erden. Deshalb halten wir die Grenzen offen.[1]
Wir leisten nicht nur humanitäre Nothilfe. Aus der Not der Flüchtlinge machen wir eine Tugend, die Zugewanderten wie Einheimischen gleichermaßen nützt. Und worin besteht die Tugend? Im Streben nach Buntheit und Vielfalt. Von einem solchen Idealismus sind unzählige Christinnen und Christen beseelt. Daran hängt ihr Glaube. Der wohl wichtigste Glaubenssatz lautet: Es gibt eine moralische Pflicht zu grenzenloser Offenheit.
Das hört sich aber steil an! Doch bei Licht besehen, steckt ein faszinierendes Zukunftsmodell dahinter: Alle Menschen werden Brüder! Seid umschlungen, Millionen! Alle verstehen sich als Weltbürger. Alle Menschen können ihren Wohn- und Arbeitsort überall auf diesem blauen Planeten frei wählen, unabhängig von ihrer Herkunft. Es kommt der Tag, an dem es keine Schranken mehr gibt, keine Unterschiede mehr zwischen schwarz und weiss, gelb und rot, hoch und niedrig, wohlhabend und bedürftig.
Haben nicht die Propheten des alten und neuen Testaments dieses goldene Zeitalter verheissen, allerdings für eine ferne Zukunft? Ist es nicht unsere Aufgabe, die Ankunft dieses Zeitalters zu beschleunigen? Wenn Hunger und Ausbeutung, Verfolgung und Armut, Fanatismus und Egoismus überwunden sind, wird der große Tag kommen. Dann werden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Tat umgesetzt. Auf der ganzen Welt handeln wir dann nur noch nach diesen Prinzipien. Und Gott wird mit uns sein. Jedenfalls hoffen wir das.[2]
Idealisten und Zweifler
Der Weg dorthin ist steinig und schwer. Wir gehen ihn trotzdem. Besonders wir hier in der Mitte Europas. Nächstenliebe ist deine und meine Sache! Also spucken wir in die Hände und legen los. Wenn möglichst viele anpacken, wird unsere Willkommenskultur immer mehr Nachahmer finden, und mit der Zeit entsteht ein globales Netzwerk. Ist das nicht eine Revolution der Liebe, mit Gottes Hilfe in Gang gebracht? Miteinander träumen wir den Traum von einer besseren und gerechteren Welt. Und diese Vision setzen wir mit vereinten Kräften um, Schritt für Schritt.
Ich gebe zu: Ich gehöre zu denen, die noch beiseite stehen. Ich bin ein Zweifler. Ich verstehe mich zwar auch als Christ. Auch ich glaube der Bibel und ihren Zukunftshoffnungen. Aber zugleich denke ich nach. Und schaue genau hin. Was sehe ich? Unzählige Probleme, die seit Öffnung der Grenzen auf uns zurollen wie eine Dampfwalze. Sollen wir dennoch gläubig an unserer Willkommenskultur festhalten, im blinden Vertrauen und um jeden Preis?
Völker und Grenzen
Das Problem ist: Das alles geschieht nicht im luftleeren Raum. Neben den vielen Menschen, die von aussen einströmen über kaum noch gesicherte Grenzen hinweg, gibt es weiterhin unsere alteingesessene Bevölkerung. Die löst sich ja nicht in Luft auf. Die hat über Jahrhunderte und Jahrtausende ihre Sitten und Bräuche hervorgebracht. Sind ihre angestammten Rechte etwa nichts mehr wert im Zeitalter globaler Wanderungsströme? Sie müssten doch auch geschützt werden! Auf der einen Seite sind also Hoffnungen und Sehnsüchte, auf der anderen Seite langfristig erworbene Besitzansprüche. Das sind die Beharrungskräfte der schon sehr lange in unserem Raum ansässigen Völker. Dort drüben aber sehen wir die Not der Flüchtlinge und ihren verzweifelten Drang nach Mitteleuropa. Wie lassen sich beide Seiten in Einklang bringen? Gibt es überhaupt eine friedliche Lösung?

Oder sind die Gegensätze zu groß? Erfüllen überwachte Grenzen vielleicht doch ihren Sinn und Zweck? Weil sie es möglich machen, eine Auswahl zu treffen unter denen, die anklopfen? Müssen wir also unsere hochfliegenden Hoffnungen und Erwartungen zurückschrauben? Ich frage, an die Adresse meiner christlichen Freundinnen und Freunde gerichtet: Ist das Gebot der Nächstenliebe wirklich so schrankenlos auszudehnen, wie wir in unserem frommen Idealismus dachten? Lässt sich wirklich behaupten, die Botschaft der Bibel laufe auf Universalisierung und Globalisierung hinaus, samt Auflösung der Grenzen, samt Durchmischung und Vereinigung aller Völker?
Gewiss, die evangelische und mehr noch die katholische Kirche verstehen sich als internationale Religionsgemeinschaften. Doch damit sind die bestehenden Völkergrenzen noch lange nicht aufgehoben, im Gegenteil. Es hat immer wieder Kirchenleute gegeben, die sich als Patrioten verstanden haben. Dem Kirchenmann und Dichter Johann Gottfried Herder (1744-1803) wird das geflügelte Wort zugeschrieben: „Völker sind Gedanken Gottes“. Herder spielt damit auf die Pläne des Schöpfers an, die immer wieder für Überraschungen gut sind. Bestimmt hat sich Gott etwas Kreatives dabei gedacht, als er nach dem Turmbau zu Babel (1. Mose Kapitel 11) dafür gesorgt hat, dass sich die Völker eigenständig entwickeln konnten. Er hat festgesetzt, „wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen“ (Apostelgeschichte 17,26).
Wanderschaft und Heimat
Was folgt daraus? Dass die Menschheit unterteilt ist in verschiedene Großgruppen, die räumlich und sprachlich getrennt leben – das hat offenbar einen höheren Sinn. Das ist von Gott genau so gewollt. Das Prinzip der Differenz ist ihm mindestens ebenso wichtig wie das Prinzip der Integration.
Sicherlich, das alte Testament berichtet immer wieder von Einzelpersonen oder Gruppen, die auf der Flucht sind und im Ausland Unterschlupf suchen. Solche soll man pfleglich behandeln, wird in den Geboten Gottes eingeschärft. Diese Zuwanderer sollen am kulturellen Leben teilhaben, zu den Festen eingeladen werden und miteinander fröhlich sein. Mit anderen Worten: Sie sollen integriert werden.[3]
Was jedoch ist mit ganzen Volksstämmen, die unterwegs sind? Das Volk der Juden müht sich in jahrzehntelanger Wüstenwanderschaft ab, einen neuen Lebensraum zu finden. Und das geht gar nicht friedlich. Von Integration keine Spur. Was sind das für gewaltsame Verschiebungen! Das wird so drastisch geschildert, dass uns Hören und Sehen vergeht. Nichts da mit Multikulti!

Aber kennt die Bibel nicht auch das Zukunftsmodell einer friedlichen Weltzivilisation? Was ist mit Propheten wie Jesaja und Johannes, die einen Blick über den Tellerrand wagen? Sie zeichnen das Bild einer künftigen Völkerfamilie, die in Harmonie lebt, geleitet durch Christus. Ist also die klassen- und grenzenlose Weltgesellschaft nicht doch eine Option für die Zukunft? Vermag uns diese Vision nicht zu Taten der Nächstenliebe beflügeln? Natürlich kann sie das und soll sie das. Aber den ganz großen Wurf schaffen wir nicht. Den schafft erst Jesus Christus, wenn er wiederkommt. Bis dahin lasst uns geduldig sein und auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Behalten wir den nüchternen Blick auf die Wirklichkeit, wie sie ist und wie sie uns umgibt. Und was sehen wir da, wenn wir genau hinschauen?
Das herkömmliche Menschheitsmodell entwickelt immer noch ziemlich starke Beharrungskräfte. Da sind sie also, die Völker dieser Erde: Durch Abstammung, Sprache, Kultur, Verfassung, Sitten und Bräuche sind sie charakterisiert, nicht zuletzt durch klar definierte Grenzen. Dieses System basiert auf einer festen Heimatbindung, die sich über viele Generationen hinweg herauskristallisiert hat. Dieses System ist verhältnismäßig konservativ. Es lässt sich nicht so leicht verändern oder abschaffen – auch nicht durch den religiösen Druck, mit dem derzeit eine utopische, weltfremde Form von Willkommenskultur als das einzig moralisch Richtige hingestellt wird.[4]
Der Rat des Dichters
Einem Einwand möchte ich zum Schluss begegnen: Gab es nicht bereits zur Aufklärungszeit ähnliche Bestrebungen, wie sie heutzutage von nicht wenigen kirchlichen Vertretern in der Öffentlichkeit kundgetan werden? Haben nicht unsere damaligen Dichter und Denker bereits eine Willkommenskultur gepredigt? „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“ ruft uns Friedrich Schiller (1759-1805) in seiner Ode an die Freude zu. In Beethovens Vertonung wurde dieses dichterische Kunstwerk mittlerweile zur Europahymne erwählt.
Dazu muss man wissen: Schiller hat dieses Werk in seinen jüngeren Jahren verfasst, als er von revolutionärem Idealismus erfüllt war. Damals konnte er noch auf eine weltbürgerliche Vereinigung aller Menschen hoffen. Später geht er vorsichtig auf Distanz zu diesem Gedicht: Es halte der Realität nicht stand, wie wir sie vorfinden. Dieser Text sei zeitbedingt und habe keine Aussagekraft über die Welt als Ganzes, bemerkt der Dichter gegenüber seinem Freund und Mäzen Christian Gottfried Körner.[5] Erscheinen ihm seine früheren Aussagen demnach als zu kosmopolitisch? Will er nun nicht mehr Millionen umarmen? Will er nicht mehr die ganze Welt mit einem Begrüßungskuss beglücken? Was empfiehlt er stattdessen?
Es gibt ein Wort Schillers, das in eine andere und traditionellere Richtung weist. Wir finden es in dem Drama Wilhelm Tell (II/1). Dort richtet der bodenständige Werner Freiherr von Attinghausen im Namen der Eidgenossen folgende Warnung an seinem Neffen Ulrich von Rudenz, der sich in die lukrativen Dienste des international ausgerichteten Imperiums der Habsburger begeben hat: „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! Das halte fest mit deinem ganzen Herzen. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft. Dort in der fremden Welt stehst du allein, ein schwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt.“
Ein sensibles Wort. Ein sorgsames Wort. Ein bescheidenes Wort: Es lehrt die Abkehr von schwärmerisch überzogenen Weltentwürfen. Er führt zu einer bodenständigen, heimatbewussten Grundhaltung und damit verbundenen Grenzsicherung. Auf fester heimatlicher Grundlage öffnen wir uns für Völkerverständigung und -freundschaft. Auf der Basis festgefügter nationaler Sicherheit leisten wir humanitäre Hilfe an Notleidende aus fernen und nahen Ländern. Anders geht es nicht.
Nächstenliebe – deine Sache? Wohl wahr. Aber Nächstenliebe ist nicht voraussetzungslos. Sie gelingt erst auf der Grundlage von Selbstachtung. Haben wir als Volk genügend Selbstwertgefühl entwickelt, wenden wir uns Menschen aus fremden Kulturkreisen zu, ohne unsere Identität zu verleugnen.